Deutsche kicken in der gefährlichsten Favela Rios
Von Tobias Käufer, Rio de Janeiro
Ein Fußballspiel zwischen Deutschen und Brasilianern reißt am 25. Jahrestag der Wiedervereinigung in einer berüchtigten Siedlung Rios Mauern des Misstrauens ein. Unser Autor steht im Tor.
Bernhard Weber alias „MC Gringo“ liebt den authentischen Auftritt. Also entscheidet er sich, zum von ihm organisierten Fußballspiel in Rio de Janeiros berüchtigter Favela „Complexo do Alemão“ mit der urbanen Seilbahn anzureisen. Das Auto bleibt ein paar Blocks weiter unten stehen. Er und seine deutschen Mannschaftskameraden sollen genau so ankommen, wie es die Bewohner der Favela auch gewohnt sind. Es sind die Stunden der kleinen Gesten mit großer Wirkung, mit denen ein Stuttgarter Musiker, der seit mehr als einem Jahrzehnt in einer der vielen Favelas wohnt, versucht, eine Brücke zu schlagen.
Es ist der Tag der Deutschen Einheit, und weil das irgendwie passt, hat „MC Gringo“ das Motto seines Freundschaftsspiels zwischen Deutschen und Brasilianern unter das Motto „Mauern einreißen“ gestellt. In dem „Bereich des Deutschen“, wie das Armenviertel übersetzt heißt – weil früher hier einmal ein Pole wohnte, den sie fälschlicherweise für eine Deutschen hielten –, sind Deutsche nahezu unbekannt. Sie trauen sich nicht hierher.
Selbst die „Cariocas“ wie Rios Einwohner gerufen werden, machen einen weiten Bogen um das wegen der Gewalt und Kriminalität gefürchtete Viertel, in der sich Drogengangs einen unendlich scheinenden Kampf mit der Polizei liefern. Einschusslöcher in den Häuserwänden zeugen von den Wunden, die dieser Krieg gerissen hat. „MC Gringo“ hat eine bunte Truppe aus Deutschen zusammengestellt, die in Brasilien leben, arbeiten oder gerade zu Besuch sind. Journalisten, Touristenführer, Unternehmer. Sie sollen die Vorhut sein für das, was irgendwann einmal kommen soll. Ein reger kultureller Austausch, zumindest ist das die Wunschvorstellung des schwäbischen Samba-Musikers.
Sie alle waren am Abend zuvor noch beim offiziellen Empfang anlässlich des 25. Jahrestages der deutschen Einheit in die Residenz des deutschen Generalkonsuls in Rio de Janeiro eingeladen. Doch größer könnten die Kontraste innerhalb von nicht einmal 24 Stunden kaum sein. Auf dem beeindruckenden Anwesen wartete neben Frikadellen, Bratwurst, Sekt und Weizenbier auch ein bisschen Eigenwerbung auf die edel gekleideten Gäste. Hamburg wird als kommende Olympiastadt beworben, Stabhochspringer Björn Otto mischt sich unter die Gäste, die riesige Terrasse mit herrlichem Blick über die ganze Stadt ist im Stile einer „olympischen Nacht“ geschmückt. Die Deutschen mit Einfluss in Politik, Sport, Medien und Wirtschaft sind hier unter sich.
Einen Tag später sind die Voraussetzungen ganz andere: Hier gibt es keine Visitenkarten, sondern Umarmungen, „Abracos“, wie die Brasilianer sagen. Hier bilden die Nachbarn eine Samba-Band, und die Menschen brauchen keinen hippen DJ, der trotz aller Mühen eine überwiegend in Schwarz gekleidete weiße Gästeschar kaum zum Tanzen bringen kann. Und Schwarz ist hier die Farbe der Menschen, nicht der Anzüge.
Fußball spielen, um die Angst zu besiegen, hat sich „MC Gringo“ in den Kopf gesetzt. Es sollen endlich auch einmal Ausländer und ganz besonders die Deutschen in die Favela kommen und sich ein Bild von der Lage dort machen: „Am liebsten möchte ich, dass wir eine deutsche Mannschaft gründen, die den „Complexo do Alemão“ als ihre Heimat adoptiert.“ Das klingt verwegen. Aber das war die Idee hinter dem Spiel am Tag der Deutschen Einheit.
Reiche warnen Ausländer
„MC Gringo“ hat im Konsulat Journalisten, Unternehmer, Diplomaten, sogar einen deutschen Kriminalkommissar zum Fußball in der Favela eingeladen. Viele sagen zu, scheinen begeistert, gekommen ist dann nur einer: Filmregisseur Achim „Akiz“ Bornhak aus Berlin („Das wilde Leben der Uschi Obermaier“) ist wegen des Internationalen Filmfestivals in der Stadt und stellte am Abend vor dem Spiel seinen Film „Der Nachtmahr“ vor. Jetzt steht er an der Seitenlinie des Spielfeldes und saugt die Momente in sich auf: Die Farben der Favelamauern, das Lachen der Kinder, Klappern der Stiefel der Militärpolizei, die das Spielfeld bewacht. „Ich bin erschlagen von diesen Bildern und diesen Eindrücken“, sagt Bornhak und filmt alles, was ihm vor die Linse kommt.
Meist kommen die wohlhabenden Ausländer mit den Favelabewohnern nur an den berühmten Stränden Copacabana, Ipanema oder Leblon in Kontakt. Es gibt zwar „Favelatouren“, doch die führen fast ausschließlich in Vorzeigefavelas wie Santa Marta. Ein wirkliches Gespräch mit den Vermietern von Strandkörben, Eisverkäufern oder Bettlern kommt an den Stränden nie zustande. Nun ist es genau umgekehrt: Die Deutschen gehen dorthin, wo die Favela-Bewohner zu Hause sind. Dorthin, wo die Seilbahn bei Sonnenuntergang ihren Betrieb einstellt und die Sicherheitsgitter hinuntergelassen werden. Dorthin, wo ein Ausländer niemals hingehen sollte, wie es die reichen Bewohner Rios immer wieder sagen.
Gespielt wird auf einem Betonplatz unterhalb der Seilbahnstation Baiana. „MC Gringo“ hat die Partie vorher bei der Polizei angemeldet, ohne Vorankündigung geht hier gar nichts. Die zuständige lokale Polizeistation der Befriedungstruppe UPP hat insgesamt acht Beamte geschickt. Alle tragen schusssichere Westen und sind schwer bewaffnet. Das Bild passt nicht so recht zur friedlichen Atmosphäre des Nachmittags, doch in der Woche vor dem Spiel wurde ein Polizeibeamter bei einer Schießerei getötet.
Zuletzt kam es im reichen Süden der Stadt zu heftigen Auseinandersetzungen. Heranwachsende aus den Favelas hatten zu Dutzenden Jagd auf einheimische und ausländische Touristen gemacht. Doch wie vor der WM bekämpft Brasiliens Politik nur die Symptome, nicht die Ursachen der Kriminalität, wie soziale Ungerechtigkeit und Arbeitslosigkeit. Stattdessen droht eine weitere Eskalation der Lage, auch durch linksradikale Gruppen.
Wir sind Menschen und keine Monster
Wegen dieser Unruhen ist es ein kleines Wunder, dass das Spiel stattfinden kann. Die Gastgeber geben sich besondere Mühe. Mit einem Besen schrubben sie minutenlang vor dem Anpfiff das Regenwasser vom Betonplatz, die Deutschen sollen nicht ausrutschen. Sie wollen gute Gastgeber sein für diejenigen, die eine unsichtbare Mauer am Tag der Deutschen Einheit durchbrechen wollen. Genau diesen Gedanken nimmt „MC Gringo“ auf.
Er schnappt sich das Mikrofon der lokalen Sambaband. „Ihr wolltet es nicht glauben, aber wir sind gekommen“, sagt er, und die Brasilianer klatschen begeistert. „Für uns war das mehr als nur ein Spiel“, sagt Rangell, der Organisator auf brasilianischer Seite. „Für uns war das eine Geste, dass der Rest der Welt sich für uns interessiert. Dass sie sehen, dass wir Menschen sind wie ihr und keine Monster.“
Dann wird Fußballball gespielt, zweimal 20 Minuten. Mehr als 200 Spieler hatten sich im Vorfeld für die „brasilianische Auswahl“ des „Complexo do Alemão“ beworben, heißt es. Am Ende sind es acht, die in schmucken gelben Trikots spielen. Gespendet hat die Hemden dem Vernehmen nach Adriano Leite Ribeiro, Welttorjäger 2005 und ein Kind der Favelas von Rio de Janeiro. Wegen der angespannten Lage nach dem Polizistenmord sind die Tribünen nur halb gefüllt. Es sind hart umkämpfte, aber ausgesprochen faire 40 Minuten. Nicht ein einziges Mal wird Foul gespielt, einen Schiedsrichter gibt es nicht. Zwischenzeitlich droht den Deutschen ein kleines Debakel, doch nach einem 6:11-Rückstand kämpft sich „Alemanha“ noch einmal zurück. Am Ende steht es 12:12, unentschieden. Ein perfektes Ergebnis für diesen Tag.
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