“Als ich mir damals meine eigenen Haare in kleinen Büscheln vom Kopf gerissen habe, um sie dem Monster in die Eier, zwischen die Beine, in die Ohren und unter die Arme zu stecken, hatte ich eigentlich immer noch den Eindruck, dass soweit alles OK sei”
Erst rückblickend verstehe ich, warum sich damals meine Freunde langsam aber sicher von mir verabschiedeten.
Ich habe das nicht gemacht, weil ich einer dieser ach-so-authentischen-und-leidenschaftlichen Künstler sein wollte, die auch mit ihrem eigenen Blut malen, sondern weil diese billigen Perücken für 9,99 Euro aus dem Afroshop einfach nach Plastik aussahen. Echte Haare aus dem Special- Effect-Make-up-Laden sind affenteuer, und auf die Idee, beim Friseur die Mülltonne zu durchforsten, kam ich irgendwie nicht.
Ich hatte die Öse einer Nähnadel in der Mitte abgebrochen, so dass sie wie eine winzige, zweizackige Gabel aussah. Damit konnte ich jedes Haar einzeln in das weiche Fleisch des Monsters aus Schaumlatex stechen. Diese Technik ist nicht von mir. Das Geheimnis hat mir Dominic Hailstone verraten, der Puppenbauer der Aphex-Twin-Masken des legendären “Come to Daddy”-Musikvideos. Ich hatte ihn Mitte der 2000er Jahre bei Myspace ausfindig gemacht und kontaktiert. Ich bin ihm heute noch dankbar, denn das Ergebnis sieht unbeschreiblich aus.
Ich lebte damals in einem alten LKW, weil ich mir keine Wohnung mehr leisten konnte. Hartz IV konnte ich nicht beantragen, denn meine Kinder lebten mit ihrer Mutter im Ausland und gingen auf eine Schule, die in Deutschland nicht akzeptiert wurde. Das war also illegal und wäre aufgeflogen, wenn ich zum Amt gegangen wäre.
Das klingt vielleicht alles nicht so prickelnd und ich gebe zu, dass ich mir als Teenager ein Leben als Filmemacher auch irgendwie anders vorgestellt hatte. Aber ich sag’s euch ehrlich: Es ist zwar nicht sexy, wenn man im Berliner Winter in einer gold-silberfarbenen Folie aus dem Erste-Hilfe-Koffer eingewickelt in seinem Schlafsack liegt und selbst dann noch friert—aber es ist auch nicht so schlimm, wie es klingt. Und abgesehen davon war mir klar, dass mich niemand gezwungen hatte, diesen Weg einzuschlagen. Es gab in meinem Leben viele Gelegenheiten, in denen ich ordentlich bezahlt worden wäre, wenn ich das inszeniert hätte, was der deutsche Zuschauer laut Marktanalyse angeblich sehen wollte.
Die Chancen waren da. Mehr als einmal. Deswegen kann ich niemandem die Schuld dafür geben, dass ich wie ein Köter um die Häuser schlich und meine Alltagsprobleme darin bestanden, Asia- Imbisse ausfindig zu machen, in denen Nudeln für 1,50 Euro verkauft wurden.
Mir war aber gleichzeitig immer wichtig, dass man mir dieses abgemagerte Leben nicht ansehen konnte und ich nicht wirkte wie ein Junkie. Ich wollte nie ein Dieselpunk sein und war’s auch nicht. Wenn ich mir die Bilder von damals anschaue, dann hat das auch ganz gut funktioniert.
Ich hatte es damals von der gesamten deutschen Filmindustrie bereits schriftlich, dass sich kein einziger Zuschauer in diesem Land für den Nachtmahr interessieren würde. Von mehreren Freunden hatte ich gehört, dass man sich inzwischen in der Branche über so einen Regisseur lustig machen würde, der mit einem in Gleitgel eingeölten Monster in einer Metallkiste auf der Suche nach Partnern von einer Produktionsfirma zur nächsten ziehen würde.
Manche Lektoren waren regelrecht angepisst, weil sie dachten, ich würde mich über sie lustig machen. Man bellte mir ins Gesicht, für welche Zielgruppe der Film denn sei? Und, welches Genre überhaupt? Die Geschichte würde am Puls der Zeit vorbeigehen, kein Teenager würde so sprechen wie in diesem Buch, ein Monster dürfe NIEMALS so früh im Film gezeigt werden, es sei keine Identifikation mit den Protagonisten möglich, ich würde „den Zuschauer nicht abholen" und so weiter …
Jeder hatte einen anderen Punkt, das Buch als kompletten Müll abzuschmettern. Aber es gab einen Grund, weswegen man diesen Film nicht drehen kann, in dem sich alle einig waren: So eine Art Film gab es noch nie in Deutschland. Vielleicht noch nicht einmal in Amerika, aber auf jeden Fall nicht hier. Nicht bei uns. Ein paar Mal hatte ich in diesem Moment noch gebrüllt: “Ja!!! Eben!!! GENAU!!! Das gab’s noch nie! Lass uns die Ersten sein, die so eine Geschichte erzählen.” Aber auf die Dauer hatte ich verstanden, dass sie damit was anderes meinten.
Damals hatte ich die erste der beiden Lektionen gelernt, die ich beim Nachtmahr lernen sollte. Das Neue/das Einzigartige/das Fremde/das Unerforschte muss für Produzenten in Deutschland das Aller-aller-aller-Schlimmste sein, was es überhaupt gibt. Scheinbar kommt es einem an physischen Schmerz grenzendem Gefühl nahe, mit etwas konfrontiert zu werden, das sie nicht bereits mehrfach erfolgreich realisiert gesehen haben.
Ich weiß nicht, ob sich einer von euch da draußen das Gefühl vorstellen kann, als ich dann—viele Jahre später—den Film mit meiner letzten verbleibenden Kraft und einer eingeschworenen Clique an Filmemachern, Freunden, Schauspielern und Musikern um mich herum realisiert habe. Ohne Budget, aber mit der Bereitschaft, notfalls nur an den Wochenenden zu drehen—solange bis der Film fertig ist.
Oder das Gefühl wie es war, als der Film dann plötzlich fertig war und auf eine Festivalreise um die ganze Welt gezogen ist.
Wie es ist, nachts auf dem Hollywood Boulevard zu stehen, während der Film im ausverkauften Mann’s Chinese Theatre läuft.
Oder wenn plötzlich Zusatzvorführungen von den Festivals gebucht werden, obwohl der Film bereits mehrmals in vollen Sälen mit bis zu 1.000 Plätzen gelaufen ist.
Wie es ist, Straßenkids in Rio zu sehen, die keinen einzigen deutschen Dialog oder englischen Untertitel lesen können, aber den Film feiern, als gäbe es kein Morgen.
Oder wie es ist, wenn sich ein schwerbehinderter Mann fortgeschrittenen Alters nach einer Vorführung mit leuchtenden Augen für den Film bedankt und sagt: “Ich weiß, was der Film bedeutet!! Ich weiß es. Er bedeutet, dass man lernen muss, sich selbst zu lieben, stimmt’s?”
Ich weiß nicht, ob es das ist, warum andere Filmemacher Filme machen oder Produzenten Filme produzieren. Aber mich macht das so glücklich, dass ich es kaum in Worte fassen kann.
Die zweite Lektion, die ich bei diesem Film gelernt habe, ist, dass es nichts, aber auch gar nichts auf dieser Welt gibt, was einen aufhalten kann, solange man daran glaubt. Klingt kitschig. Ich weiß. Aber wenn man das am eigenen Leib erfahren hat, dann macht der Satz plötzlich Sinn.
Wenn ich euch da draußen einen Tipp geben darf, dann macht nicht den gleichen Fehler wie ich. Verschenkt keine wertvolle Zeit und versucht nicht, blinde Menschen sehend zu machen. Geht euren eigenen Weg, denn es gibt sowieso nur diesen einen.
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